Es liegt in der Natur der Sache. Dass die Schweiz zu den tunnelreichsten Ländern der Erde zählt: Wer in einem gebirgigen Land per Eisenbahn und Auto unterwegs sein und direttissimo von A nach B gelangen will, muss Tunnels bohren und Brücken bauen. Dank dem Ja zur zweiten Gotthardröhre für den Strassenverkehr vom 28. Februar, der Eröffnung des Gotthard-Baseistunnels für den Zugverkehr am 1. Juni und dank der Präsentation von gigantischen, visionären Projekten im Mittelland schreibt das Jahr 2016 Tunnelgeschichte. Einem Eisenbahntunnel ist noch bis 22. Juni eine Ausstellung: Der Grenchenbergtunnel – mit knapp 8,6 Kilometern der längste Juradurchstich – ist 100 Jahre alt geworden.
Begonnen hat die lange Tunnelgeschichte der Schweiz vor 300 Jahren, als 1707 der Tessiner Pietro Morettini das 64 Meter lange Urnerloch durch einen Felsen in der Schöllenenschlucht sprengte und so ab 1708 den Weg für die Fussboten und Saumtiere über den Gotthard sicherer machte – wurde doch der Steg entlang der Felswand immer wieder von der Reuss weggespült. Mit diesem ersten Tunnel hat Morettini womöglich für viele nachfolgende Schweizer Tunnelbauten ein unheilvolles Vorzeichen gesetzt: Die Baukosten wurden mit 3’080 französischen Talern um 83 Prozent überschritten. Die Lösung des Problems war ebenso alt wie modern: Der Wegzoll wurde bis zur Deckung des Defizits einfach erhöht. Es dauerte über 120 Jahre, bis das Urnerloch zusammen mit den Pfaden über den Pass ins Tessin ausgebaut wurde. Nun konnten Kutschen den Gotthard passieren, was nochmals 50 Jahre später aber auch nicht mehr sonderlich attraktiv war: Am 1. Juni 1882 fuhr der erste Zug durch den Gotthard. Der 15 Kilometer lange Eisenbahntunnel lief der Passstrasse bezüglich Sicherheit, Wetterunabhängigkeit und Zeitersparnis deutlich den Rang ab.
1143 Tunnelkilometer
Ebenfalls am 1. Juni, aber 2016, wird der Gotthard-Basistunnel nach 17 Jahren Bauzeit offiziell eröffnet. Der mit 57 Kilometer längste Tunnel der Welt erhöht die Anzahl Strassen- und Eisenbahntunnelkilometer in der Schweiz auf 1143. Damit sind diese Tunnels zusammengenommen gleich lang wie die Luftlinie von Bern nach Madrid. Mit einem Anteil von 720 Kilometern haben die insgesamt 559 Eisenbahntunnels die Nase vorn. Tunnelliebhaber rechnen allerdings auch gerne die Wasserstollen zu den Tunnels, und diese Stollen wären dann mit 789 Kilometern noch bedeutender als die Eisenbahntunnels, jedenfalls längenmässig. Zuwachs werden spätestens 2027 auch die heute 361 Strassentunnels erhalten, denn am 28. Februar 2016 haben die Stimmberechtigten einer zweiten Röhre durch den Gotthard grünes Licht erteilt. Das 2,8 Milliarden Franken teure Projekt startet 2020 und wird parallel zum heutigen 16,9 Kilometer langen Tunnel geführt.
Grimsel im Visier
2016 hat das Tunnelfieber die Berner und Walliser neu gepackt. Auch die noch jungfräuliche Grimsel soll zu ihren Eisenbahntunneln kommen und Meiringen mit Oberwald im Goms verbinden. Die längste der dazu nötigen Röhren wäre 8,3 Kilometer lang. Katalysator des vergangenen Februar vorgestellten Projekts ist Swissgrid, die Gesellschaft, die das Schweizer Höchstspannungsnetz betreibt. Sie würde sich an den Kosten von gegen 600 Millionen Franken beteiligen und dürfte dafür ihre Leitungen, die heute über die Grimsel führen, entlang des Trassees und durch die Tunnels verlegen. Läuft alles nach Plan, wird schon 2025 die erste Schmalspurbahn die insgesamt 22 Kilometer lange Strecke befahren.
Untertunnelung des Mittellands
Für eine neue Dimension im Tunnelbau könnte das im Januar 2016 vorgestellte Projekt Cargo sous terrain sorgen. Geboren wurde die Idee, den Warenverkehr in den Untergrund zu verbannen, bereits 2001 an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Als Erstes soll ein 3,5 Milliarden Franken teurer und 67 Kilometer langer, 20 bis 60 Meter tiefer Tunnel Härkingen mit Zürich verbinden. Rund um die Uhr, aber im gemächlichen Tempo von 30 km/h, würden dann ab 2030 Container auf Rädern Waren hin und her transportieren und den oberirdischen Verkehr entlasten. Hinter dem privat zu finanzierenden Projekt steht ein Konsortium aus Schwergewichten wie SBB, Swisscom, Post, die Stadt Zürich und die IG Detailhandel (Coop, Migros und Manor) sowie das Unternehmen Cargo-Tube. Damit dürfte es schneller in die Gänge kommen als Swissmetro: Diese unterirdische Magnetschwebebahn für Personen sollte in einer ersten Phase die Zentren Bern, Luzern, Zürich und Winterthur miteinander verbinden, später auch Genf, Basel, St. Gallen, Chur und Sion. Der Vakuumtunnel, der Geschwindigkeiten von 500 km/h erlaubt, kommt aber seit Jahren nicht richtig vom Fleck und wird nun – was z.B. die Beanspruchung des Untergrunds zwischen Genf und Lausanne anbelangt – von Cargo sous terrain bedrängt. Der Bauingenieur Rudolf Mettler, Delegierter von ProSwissmetro, sieht kein Problem: «Unser Trassee würde in einer Tiefe von 50 bis 100 Metern und damit wesentlich tiefer als die von Cargo sous terrain liegen.»
Um Bern und Zürich einander noch näherzubringen, wird das bestehende Schienennetz im Mittelland ausgebaut. Während bis vor Kurzem eine fünf Milliarden Franken teure Variante mit zwei Tunnels zwischen Rupperswil und Zürich zur Diskussion stand, soll es nun nur noch ein durchgehender, 28 Kilometer langer Tunnel sein. Der Vorteil liegt darin, dass nur zwei statt vier Portale gebaut werden müssten und die direktere Streckenführung die Reisezeit weiter verkürzen würde. Das Parlament wird voraussichtlich 2018 über die Botschaft zum Ausbauschritt befinden.
Degradierung oder Schliessung
Tunnels sind nicht für die Ewigkeit gebaut, jedenfalls nicht, wenn sie aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert stammen. Der 1875 fertiggestellte, 2,5 Kilometer lange Bözbergtunnel zwischen Effingen und Schinznach ist ein Nadelöhr innerhalb der NEAT. Diesen Frühling wird deshalb ein neuer, breiterer Bözbergtunnel in Angriff genommen. Er verläuft parallel zur alten Röhre, die zum Dienst- und Rettungsstollen degradiert wird.
Ganz ans Lebendige könnte es dem Weissensteintunnel der BLS gehen. Seit 1908 verbindet er Solothurn mit Gänsbrunnen bzw. Moutier. Nun muss er für 100 bis 170 Millionen Franken saniert werden, je nachdem, ob die baulichen und technischen Massnahmen für 25 oder für 50 Jahre ausgelegt werden sollen. Weil die Strecke vorwiegend dem regionalen Personenverkehr dient und der Kostendeckungsgrad unter 30 Prozent liegt, wird der Bund die Finanzierung nicht ohne Weiteres mittragen. Es muss nämlich nachgewiesen werden, dass alternative Angebote mit einem besseren KostenNutzen-Verhältnis nicht existieren – z.B. ein Schnellbus über Balsthal und Oensingen. Während sich die Experten noch über die Analyse beugen, hat sich bereits ein Komitee «Weissensteintunnel erhalten» gebildet. Nicht ohne Grund ging die Initiative vom Bezirk Thal aus, der auf der Nordseite des Tunnels liegt: Ausserhalb des Alpenraums ist er der einzige Bezirk in der Schweiz, dessen Bevölkerung zwischen 2010 und 2013 nicht zugenommen hat. Die Schliessung des Tunnels würde Thal als Wohn- und Wirtschaftsstandort noch weiter gefährden. Immer wieder auf der Kippe steht die Zukunft des ersten Juradurchstichs. Der 1858 eröffnete und über zwei Kilometer lange Hauensteintunnel zwischen Sissach und Olten – ein Scheiteltunnel mit starken Steigungen – kann seit 1914 nicht mehr mit dem neuen Hauensteintunnel mithalten. Letzterer ist ein über 8,1 Kilometer langer Basistunnel und gehört zu den meistbefahrenen Eisenbahnstrecken der Schweiz. Der alte Tunnel steht dank der Initiative des Vereins HauensteinBahn noch im Dienst des «Läufelfingerli», das in den Sommermonaten auch mal von einer Dampflok gezogen wird.
Ein Gratistunnel für die Schweiz
Nicht der älteste, aber der längste Juradurchstich ist mit fast 8,6 Kilometern der einspurige Grenchenbergtunnel der BLS. Er verdankt seine Entstehung nicht nur dem Kanton Bern, der eine schnellere und direktere Verbindung zu seinen transjurassischen Gemeinden suchte. Vorangetrieben wurde das Projekt hauptsächlich von Frankreich, das eine direktere Alternative zur Route Pontarlier-Valorbe-Lausanne-Simplontunnel-ltalien wollte. Mit dem Bau der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) und dem Lötschbergtunnel (1906-1913) waren die Würfel gefallen: Frankreich setzte sich für die Abkürzung der bestehenden Strecke von Delle bzw. Basel nach Biel und Bern ein (sie führte über Moutier und Tavannes) und damit für den Tunnel zwischen Moutier und Grenchen am Jurasüdfuss. Ein Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Frankreich, der Kauf von Stammaktien der BLS für sechs Millionen Franken durch die französische Ostbahn und eine 4 Prozent-Anleihe von Millionen Franken der Credit Français, Paris, besiegelten das Projekt. Zwischen 1911 und 1915 gruben sich über 1’000 Arbeiter – fast alles italienische Mineure – durch den Grenchenberg. Im Tunnel wurde in drei Schichten rund um die Uhr und an sechs Tagen in der Woche gearbeitet. Die Zufahrt zum Südportal auf 484 m ü. M. wurde mit dem Bau von Viadukten bewältigt. Sie veränderten das Stadtbild Grenchens in gleichem Mass, wie die Italiener mit ihrer eigenen Siedlung, genannt Tripoli, das verschlafene Uhrenstädtchen belebten. Und sie sorgten für eine Blutauffrischung, wie die zahlreichen italienischen Familiennamen in Grenchens Telefonbuch heute noch beweisen. Mit 25,7 Mio. CHF war der Tunnel 300’000 CHF günstiger als budgetiert und kostete die Schweizer Seite so gut wie nichts. Die interessante Geschichte des Tunnels wird noch bis 22. Juni 2016 im Kultur-Historischen Museum Grenchen nachgezeichnet (www.museumgrenchen.ch).
Tunnels und Pyramiden?
Trotz allem ist wohl nicht ganz richtig, die Schweizer als ein Volk von Tunnelbauern zu bezeichnen. Wie das Bild einer albanischen Fahne bei der Feier des Durchstichs des Ceneri-Basistunnels (15,4 Kilometer) im Januar 2016 in Erinnerung gerufen hat die Aufnahme geisterte verbunden mit der Frage «Dürfen die das?» durch die Medienlandschaft – waren und sind es meist Ausländer, die das Grobe erledigen – und dabei allzu oft auch ihr Leben lassen: Italiener, Deutsche oder gar Südafrikaner im Fall der vertikalen Lüftungsstollen im Gotthard-Basistunnel. Wer die Expertise hat, sich in der Horizontalen durch den Fels zu fressen, verfügt eben nicht notwendigerweise über die Fertigkeit, abwärts zu bohren und zu sprengen. Dann ist das Know-how aus den afrikanischen Gold- und Diamantenminen gefragt.
So gigantisch ein Tunnel auch sein mag, am Schluss ist von ihm nicht viel mehr zu sehen als zwei schwarze Löcher. Auch das Ausbruch Material wird gut schweizerisch weiterverarbeitet und wiederverwendet, etwa als Spritzbeton für das Tunnelgewölbe. Dabei hätte man z.B. die 28 Millionen Tonnen – oder 13 Millionen Kubikmeter – Gestein, die aus dem Gotthard-Basistunnel bugsiert wurden, zu immerhin fünf Cheopspyramiden auftürmen können! In diesem Fall hätte Christian Kracht den Satz «Andere grosse Völker der Geschichte haben Pyramiden gebaut, wir graben Tunnel» in seinem Buch «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» (2008) neu überdenken müssen …
Gondeln statt tunneln
Tunnel sind auch in Grossstädten beliebt und werden dort von Strassenbahnen befahren. Nicht so in der Schweiz. Sieht man von kurzen untertunnelten Abschnitten im Zürcher Tramnetz ab, verfügt einzig Lausanne über eine Metro, die seit 2008 Ouchy mit Epalinges verbindet. Vorbildcharakter scheint diese Untergrundbahn nicht einmal in der Romandie zu haben. Dort denkt man in verschiedenen Städten lieber über Luftseilbahnen nach, um den Stadtverkehr zu entlasten und Quartiere miteinander zu verbinden. Der Freiburger Grosse Rat begrüsst die Idee, den Bahnhof und das Kantonsspital mit einem neuen Entwicklungsgebiet beim Autobahnanschluss Freiburg-Süd per Seilbahn miteinander zu verbinden. Schon 2021 könnte die 1,5 Kilometer lange und rund 25 Mio. CHF teure Bahn in Betrieb gehen. Ähnliche Vorhaben existieren für die Strecke Morges-Tolochenaz sowie in den Städten Lausanne (Vallon-Universitätsspital) und Genf.
Daniel Flury